* unter dem Prädikat „sehenswert“ poste ich Berichte aus aller Welt zu Orten, die man – meiner unmaßgeblichen Meinung nach – mal besucht haben sollte.
Neapolitanisches Fladenbrot oder unergründlicher Mythos?
Die Geschichte einer kulinarischen Spurensuche.
Es muss einer dieser grau verhangenen Tage in einem deutschen Ballungszentrum gewesen sein, als unsere Heldin, wir wollen sie diskret „Katrin B.“ nennen, von einem heftigen Bedürfnis gepackt wurde. Während eines Geschäftsessens in einem dieser „original italienischen“ Trendrestaurants erfüllte eine tiefe Sehnsucht nach Authentizität ihr Herz. Hier, wo alle weiblichen Gäste – auch die hässlichen – euphorisch mit „Ciao, Bella!“ begrüßt werden und wo die pittoreske Einrichtung den Gast über Schwächen des Menüs hinwegtäuschen soll. Manch’ labbrige, fettige Pizza wird so mit viel Budenzauber geschönt und serviert. Angesichts derart fragwürdiger Aussichten erinnert sich Katrin B. wehmütig an bessere Tage in sonnigen südlichen Gefilden. In ihr reift der Entschluss, zu ergründen, warum „Pizza“ im Ursprungsland so gänzlich anders schmeckt als das deutsche Imitat gleichen Namens: nach Sommer und Gewürzen, nach Musik und mediterraner Lebenslust.
Pizzabacken als Berufung
Wenige Wochen später – wir treffen die Heldin in Neapel. Hier, im Schatten des Vesuv, so hat sie recherchiert, muss es verborgen sein, das Geheimnis der perfekten Pizza. Hier an der Amalfiküste wurde 1889 das „italienische Fladenbrot mit Belag“ erfunden und von hier aus trat es seinen Siegeszug rund um den Globus an. In seiner amerikanisierten bzw. internationalisierten Form gehört es heute zu den beliebtesten Fast-Food-Gerichten der Welt – auch wenn Aussehen und Qualität nicht mehr viel mit dem Ursprungsprodukt gemein haben. Erstaunlicherweise ist Pizza auch hier in Neapel „Fast-Food“ im eigentlichen Wortsinn: eine schnelle preiswerte Mahlzeit für Eilige, die direkt aus der Hand gegessen werden kann – gerne auch im Stehen oder Gehen. Und doch hat diese Pizza so gar nichts mit dem zu gemein, was man anderswo serviert bekommt. „Schnell“ bedeutet nämlich keinesfalls „lieblos“ oder „schlecht gemacht“. Denn die Produktion neapolitanischer Pizza basiert auf einem nahezu sakralen Ritus, Pizzabäckerei ist hier eine Berufung. In diesen Küchenkosmos will die Heldin eintauchen und den Eingeweihten ihre Geheimnisse entlocken.
UNESCO-Weltkulturerbe: „Die gefüllte Hose“
Die Spurensuche beginnt bei Gino Sorbillo, einem Urenkel Luigi Sorbillos, Begründer der legendären Pizzaioli-Dynastie mit 21 Sprösslingen. Gino ist selbstverständlich der Familientradition gefolgt und beschäftigt sich wie seine Vorfahren mit belegten Teigfladen, führt eine der berühmtesten Pizzerias von Neapel und ist berühmt für seine originellen Kreationen. Gemeinsam mit anderen Berufenen setzt er sich dafür ein, dass die Kunst der neapolitanischen Pizzabäcker in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen wird. Im Jahr 2017 ist es schließlich soweit. Das Restaurante Sorbillo ist auch am Tag unseres Besuchs wieder mal zum Bersten voll, im 15-Sekundentakt gehen die köstlich nach geschmolzenem Käse und frischen Kräutern duftenden Scheiben über die Theke. Eine gertenschlanke Stammkundin erklärt strahlend, sie komme fast täglich wegen des „leichten“ Mittagessens. Ein klarer Fall: diese neapolitanische Schönheit hat noch nie im Ausland eine von billigem fettem Analogkäse triefende Pizza gegessen. Auch Katrin B. verkostet nun mit wachsender Begeisterung sowohl moderne als auch traditionelle Schöpfungen der Sorbillo-Dynastie. Ihr Urteil fällt rasch: hier werden Pizzas der Spitzenklasse serviert. Der Boden ist dünn aber knusprig fest, der Teigrand luftig aufgebläht und der Belag frisch und aromatisch.
Erfindungen wie „Die gefüllte Hose“ oder „Fritierte Pizza“ machen die Sorbillos berühmt und sind bei Kunden sehr beliebt. Bei der „Gefüllten Hose“ handelt es sich um eine Art „Luxus-Calzone“, die sowohl innen wie außen schmackhaft belegt und dann besonders langsam und schonend gegart wird. Doch Gino Sorbillo ist nicht nur in der Küche ein Könner, sondern auch im Marketing. In jüngerer Zeit löst er auch schon mal einen ShitStorm auf SocialMedia aus, als er den Frevel begeht, eine seiner Pizzen mit Ananas zu belegen. Puristen und Traditionalisten treibt das auf die sprichwörtliche Palme. Sowas machen höchstens Amerikaner. Sowas gehört sich nicht. Basta.
Zehn Jahre Ausbildung?!
Doch egal, um welche Kreation es sich handelt – wer den Pizzabäcker nach genaueren Rezeptangaben befragt, beißt nicht auf knusprig-nachgiebigen Teig, sondern auf Granit. Gino lächelt verbindlich und erklärt, die Rezepte seien Familiengeheimnis. Basta.
Immerhin erfährt man noch, dass ein „richtiger“ Pizzabäcker bevor er diesen Ehrentitel führen darf, zunächst eine schier endlose Ausbildung absolvieren muss. Die erste Stufe dauert angeblich zwei Jahre und beinhaltet das Ausfegen der Küche und das Sauberhalten der Arbeitsutensilien. Anschließend folgen etwa drei Jahre „Tomatenschneiden und Mozzarellazupfen“, bevor der Auszubildende weitere 3-4 Jahre in der Nähe des Allerheiligsten, des Pizzaofens, Dienst tun und ihn beheizen darf. Am Ende dieser soliden acht- bis zehnjährigen Grundausbildung wird der berufsständische Nachwuchs zur Arbeit am „Vorbereitungstisch“ eingeteilt. Erst jetzt, keinen Tag eher, darf sich der Aspirant endlich offiziell „Pizzabäcker“ nennen. Basta.
Unsere Heldin Katrin B. ist ein kritischer Geist, der solche Geschichten normalerweise ins Reich der Legenden verweisen würde. Aber die Ernsthaftigkeit, mit der diese Erklärungen vorgetragen werden, macht deutlich, dass die zehnjährige Ausbildungszeit ganz offensichtlich der Familientradition und den hierarchisch-patriarchalischen Tatsachen entspricht…
Der richtige Pizzaofen
Unwissentlich hat Gino ihr jedoch einen wichtigen Hinweis für die weitere Suche gegeben: der Ofen scheint im Entstehungsprozess neapolitanischer Pizza eine entscheidende Rolle zu spielen. Welche Öfen kommen also zum Einsatz? Detektivische Recherche entdeckt zwei konkurrierende Modelle: Da gibt es einerseits den mit Holz beheizten und mit Abluft gekühlten traditionellen Steinofen (der natürlich unbedingt von einem neapolitanischen Ofenmeister gebaut sein und möglichst über mehrere Jahre „eingeglüht“ sein muss). Der größte Verfechter dieser Methode heißt Lello Magnetti, nach eigener Aussage bester Ofenbauer Italiens – also eigentlich der Welt. Sein schärfster Kontrahent ist Mario Acunto. Er hat das Patent für einen neuartigen Steinofen entwickelt, der „wassergekühlt“ ist und verfügt über eine eigene überzeugte Anhängerschaft. Ganze Schulen von Pizzabäckern schwören auf sein System und beteuern, dass die Qualität der Pizza völlig neue Dimensionen erreiche. Wer den Unterschied nicht merke, sei ein Banause. Basta.
Das perfekte Mehl…
Von derlei Kontroversen lässt sich Katrin B. nicht beirren. Stattdessen geht sie einem weiteren wichtigen Produktionsfaktor auf den Grund: den Zutaten. Elementare Bedeutung haben natürlich das Mehl, die Tomaten und der Käse – alle drei Grund- und Hauptbestandteile einer jeglichen Pizza. Das richtige Mehl in der richtigen Körnung zu vermahlen sei eine Wissenschaft, erläutert Dottore Antimo Caputo, Chef und Inhaber einer Getreidemühle mit angeschlossenem Labor. Und dann hält er für uns eine echte Überraschung parat. Er sage es ungern, aber das beste Getreide für die Mehlproduktion wachse seiner Meinung nach nicht in Italien, sondern in Deutschland und den USA. Auch die Mahlmaschinen, die in seiner Fabrik für die optimale Konsistenz des Mehls sorgen, sind „made in Germany“ – an diesem Punkt sei Qualität eben wichtiger als Nationalstolz. Basta.
…Tomaten und Käse…
Von Freude beflügelt, dass also auch unser Heimatland einen wichtigen Beitrag zur perfekten Pizza leistet, begeben wir uns als nächstes auf eine Landwirtschaftsmesse. Dort treffen wir den Präsidenten des italienischen Tomatenverbandes, um ihn über die besten Pizzatomaten zu befragen. Doch der verhält sich, ganz „Presidente“ zurückhaltend diplomatisch und will sich nicht festlegen lassen. Also suchen wir weiter und stoßen schließlich auf die besten Eiertomaten Italiens, die am Fuße des Vesuvio gedeihen, um als „San Marzano“ verarbeitet und eingedost zu werden. Aber nicht von jeder X-beliebigen Firma, sondern am besten von Strianese, Gustarosso oder d’Acunzi. Ausnahmsweise herrscht bei den neapolitanischen Pizza-Experten in der Tomatenfrage Einigkeit: „San Marzano“ sind die Besten. Basta. Es sei denn man nähme frische Tomaten. Basta.
Wesentlich schwieriger zu beantworten ist die Frage nach dem optimalen Käse. Ja, Büffelmozzarella muss es sein, soviel ist klar, aber von welchen Rindviechern? Wo sollten sie aufgewachsen und wie gefüttert worden sein? Solange diese Fragen ungeklärt seien, könne man unmöglich ein verbindliches Urteil abgeben. Basta.
…das richtige Rezept!
Erste Ermüdungserscheinungen treten auf, Katrin B. muss es sich eingestehen. Zwar schmecken die vielen verschiedenen Pizzakreationen köstlicher denn je, doch dem Geheimnis ist sie keinen Schritt näher gekommen. Nicht einmal das einfachste Grundrezept für den Teig hat sie in Erfahrung bringen können. Dann endlich, wir stehen bereits kurz vor der Abreise, geschieht das Wunder doch noch: Vincenzo Capasso, Inhaber der gleichnamigen Pizzeria, erbarmt sich und weiht die verzweifelte Deutsche ein. Er gilt als graue Eminenz der neapolitanischen Pizzabäcker-Szene und ist wohl durch Alter und Weisheit ein wenig milde geworden. In seiner eigenen Küche demonstriert er endlich wie ein guter Pizzateig entsteht: Ein Quantum Mehl, ein bisschen Salz, Hefe und Wasser, kneten und gehen lassen bis die Konsistenz stimmt.
„Wieviel Gramm von welcher Zutat? Wie lange gehen lassen? Wann genau stimmt die Konsistenz? Und wieviel bedeutet ein Quantum?“ fragt die Deutsche mit wissenschaftlicher Präzision und Beharrlichkeit. „Ja, das…“ antwortet Vincenzo Capasso feinsinnig lächelnd „…das merkt man dann schon.“ Basta.
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